Teil 1: Überblick - Psychologie der COPs
Teil 2: Vertrauen
Teil 3: Emotionen 
Teil 4: Psychologische Sicherheit
Teil 5: Mutirão und Identität
Teil 6: Empathie zwischen Welten
Teil 7: folgt in Kürze
Wer in den Verhandlungsräumen der UN-Klimakonferenzen sitzt, spürt sie sofort: die unsichtbare Spannung zwischen wir und sie. Zwischen dem Globalen Süden und dem Globalen Norden, zwischen kleinen Inselstaaten und großen Emittenten, zwischen Jugend-Aktivismus und Staatsräson.
Diese Bruchlinien sind nicht nur politisch – sie sind psychologisch. Klimadiplomatie ist immer auch Identitätspolitik: Sie berührt Fragen von Zugehörigkeit, Anerkennung und Selbstverständnis. Denn kollektive Entscheidungen – und besonders solche zur Klimakrise – sind immer auch Ausdruck sozialer Identität. Menschen handeln nicht nur als Einzelne, sondern als Mitglieder von Gruppen, Nationen, Allianzen. Diese Zugehörigkeiten geben Orientierung, Sinn – und bestimmen, wem wir zuhören, wem wir vertrauen und mit wem wir uns verbunden fühlen.
Identität kann Mauern errichten – oder Brücken bauen. Sie wird zur Barriere, wenn sie Differenz betont, Misstrauen verstärkt und den Blick auf das Gemeinsame verdeckt. Doch sie kann auch zur psychologischen Infrastruktur der Kooperation werden, wenn sie neu erzählt wird – nicht als Gegensatz, sondern als gemeinsame Geschichte des Handelns.
Genau hier liegt das Versprechen des brasilianischen Begriffs „Mutirão“: gemeinschaftliches Handeln, getragen von Vielfalt, Zusammenhalt und gegenseitiger Verantwortung.
Soziale Identität ist der Motor kollektiver Wirksamkeit – sie entscheidet, ob Menschen sich als Teil einer Bewegung erleben, die gemeinsam etwas verändern kann. In einer Welt, in der die Klimakrise entlang von Grenzen, Macht und Ungleichheit verläuft, eröffnet Mutirão einen anderen Horizont: ein Wir, das nicht durch Nation oder Status definiert ist, sondern durch die geteilte Überzeugung, dass Wandel nur gemeinsam möglich ist.
Zwischen Regionen und Staaten: Die alte Linie Nord gegen Süd prägt Erwartungen, Misstrauen und Machtverhältnisse – ebenso wie ungleiche Ressourcen und Selbstbilder.
Innerhalb von Delegationen und Allianzen: Herkunft, Alter, Geschlecht und institutionelle Zugehörigkeit beeinflussen, wer spricht – und wer Gehör findet.
In der Facilitation und Moderation: Sprache, Gesten und Werte schaffen (oder verhindern) Räume gemeinsamer Identität.
In Narrativen, Symbolen und Ritualen: Geschichten, Lieder oder Gesten der Solidarität stiften Zugehörigkeit jenseits politischer Texte.
In Momenten echter Kooperation: Wenn Delegierte spüren „Wir bewegen etwas gemeinsam“, entsteht collective agency – die psychologische Grundlage multilateraler Wirksamkeit.
In multilateralen Prozessen wie den COPs sind diese psychologischen Grundlagen entscheidend: Nur wenn sich Delegierte als Teil eines gemeinsamen „Wir“ erleben – eines globalen Mutirão –, kann aus Vielfalt kollektive Wirksamkeit entstehen.
In den Verhandlungsräumen der SB62 war spürbar, wie stark Identität die Dynamik prägt.
Unter den kleinen Inselstaaten herrschte bemerkenswerte Kohäsion und gegenseitige Unterstützung – besonders im Pazifik, wo gemeinsame Geschichte, Verwundbarkeit und Ambition zusammenschweißen. Diese Nähe war nicht nur emotional, sondern sichtbar: Die Sitzordnung spiegelte Zugehörigkeit – SIDS-Staaten nebeneinander, EU-Delegationen gegenüber. Identität war hier räumlich codiert.
Das brasilianische Konzept des „Mutirão“, von der COP30-Präsidentschaft früh eingeführt, greift genau dieses Prinzip auf: gemeinschaftliches Handeln als kulturelle Haltung, inspiriert von indigenen brasilianischen Traditionen. In Bonn blieb es jedoch abstrakt – die Verhandlungen waren textorientiert, Begegnung zwischen Menschen selten. Geschichten aus den Communities an den Frontlines fanden kaum Raum.
Doch außerhalb der Sitzungen verschob sich etwas. Beim Kaffee, beim Abendessen, in der Bar fielen Titel und Rollen. Delegierte aus Pazifik-Staaten und der EU, die tagsüber keine gemeinsame Linie fanden, lachten miteinander, hörten einander zu, erzählten von Zuhause. Hier, jenseits des Protokolls, begann das, was Mutirão im Kern bedeutet: Verbindung durch gemeinsame Menschlichkeit – Solidarität nicht als Strategie, sondern als gelebte Erfahrung.
Identität ist kraftvoll – und verletzlich. Sie kann verbinden oder spalten, je nachdem, ob sie als Brücke oder als Schutzschild wirkt. Besonders in internationalen Verhandlungen, wo Machtgefälle, Geschichte und Unsicherheit aufeinandertreffen, wird sie zum psychologischen Schlüsselfaktor.
Kurz gesagt: Kollektive Identität ist kein harmonisches Ideal, sondern ein Aushandlungsprozess zwischen Zugehörigkeit, Unterscheidung und Würde.
Empirische Studien zur sozialen Identität und kollektiven Wirksamkeit zeigen: Gemeinsame Identität ist der stärkste psychologische Prädiktor für kollektives Handeln – stärker als Emotion, Wissen oder Anreize.
Für die Klimadiplomatie heißt das: Wo Menschen sich als Teil eines gemeinsamen „Wir“ erleben, entsteht kollektive Handlungskraft – das psychologische Fundament jeder Mutirão-Kultur.
Was heißt das konkret für die Klimadiplomatie? Wie können Delegationen, Präsidien und Facilitation-Teams Räume schaffen, in denen ein gemeinsames „Wir“ spürbar wird – ein echtes Mutirão?
1. Mutirão-Räume schaffen: 
Begegnungsräume, in denen Delegierte, Aktivist:innen und Gemeinschaftsvertreter:innen gemeinsam denken und handeln, fördern geteilte Realität und gegenseitiges Verständnis. Facilitation wird hier zum Katalysator kollektiver Identität.
2. Narrative der Wirksamkeit erzählen:
Statt Defizite zu betonen („zu wenig Fortschritt“) sollten Erzählungen von Mut, Verbindung und Wirkung dominieren – Geschichten, die zeigen: Wir bewegen etwas.
3. Erfahrungen gemeinsamer Handlungskraft ermöglichen:
 Co-Design-Formate, gemeinsame Projekte oder regionale Allianzen stärken collective efficacy – das Gefühl, dass individuelle Beiträge im größeren Ganzen zählen.
4. Facilitation der “Dual Identity” gestalten:
Facilitation, die Zugehörigkeit stärkt und Differenzen würdigt, erzeugt Vertrauen. Dual-Identity-Ansätze – „Pazifik und Weltgemeinschaft“ – fördern Kooperation statt Assimilation.
5. Wirksamkeit sichtbar machen:
Kleine Fortschritte und Allianzen würdigen – Erfolg ist sozial ansteckend und stabilisiert die kollektive Handlungsüberzeugung.
6. Rituale, Symbole und Freude nutzen: 
Gemeinsame Rituale – vom Check-in bis zum kollektiven Feiern kleiner Erfolge – stabilisieren Zugehörigkeit und Energie. Freude ist ein sozialer Klebstoff für kollektive Resilienz.
Kollektive Identität lässt sich nicht verordnen, aber gestalten – durch Räume, Sprache und Gesten, die Vertrauen und Handlungskraft nähren.
Mutirão beschreibt mehr als Zusammenarbeit – es ist ein psychologisches Paradigma der geteilten Verantwortung und gegenseitigen Ermächtigung.
Wenn Diplomatie aufhört, ein Wettbewerb von Interessen zu sein, und beginnt, als gemeinschaftlicher Prozess kollektiver Wirksamkeit gedacht zu werden, verändert sich ihr inneres Gefüge: vom Aushandeln zum Gestalten, vom Misstrauen zur Mitverantwortung.
Eine Mutirão-COP bedeutet, dass Delegierte, Gemeinschaften und Institutionen sich als Teil einer gemeinsamen Identität erleben – nicht trotz, sondern durch ihre Unterschiede.
So verstanden wird Klimadiplomatie zur Praxis psychologischer Kooperation: Menschen, die sich gegenseitig als Verbündete ihrer Wirksamkeit erkennen.
Janna Hoppmann ist Psychologin und Mercator Fellow für Internationale Aufgaben. Sie arbeitet seit vielen Jahren an der Schnittstelle von Psychologie, Klima und Politik – unter anderem mit Regierungen von SIDS-Staaten, internationalen NGOs und aktuell im engen Austausch mit der COP30-Präsidentschaft. Mit ClimateMind bringt sie psychologisches Wissen in internationale Klimaverhandlungen, in die Arbeit von Delegationen und in transformative Dialogformate.
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